verzeihen

Die Freiheit nicht zu verzeihen

 

 

Vergangenen Montag fand im Tübinger Zimmertheater ein philosophischer Themenabend zum Thema „Verzeihen“ statt. Es handelte sich um eine offene Diskussion aller Teilnehmer, der eine Einleitung in Form eines Kurzreferates von Axel Braig vorausging. Es wurden spannende Fragen aufgeworfen, wie z.B.

– Ist eine Betrachtung des Verzeihens unabhängig von dem Thema Schuld und deren Definition möglich?

– Ist Vergebung dasselbe wie Verzeihen?

– Kann Verzeihen nur individuell geschehen, oder auch stellvertretend für andere, z.B. für eine Nation?

– Woraus ergibt sich überhaupt eine Motivation zu verzeihen? Und wie kann Verzeihen gelingen?

– Ist ein spontanes Verzeihen von gravierenden, traumatischen Ereignissen überhaupt möglich?  Ist Verzeihen nicht immer ein langjähriger Prozess, bei dem oftmals nicht einmal die Spanne eines Lebens ausreicht, um ihn vollständig zu vollziehen?(Es wurde bezug genommen darauf, dass eine Angehörige eines Erschossenen bereits einige Tage im Anschluß an das  Attentat in einer Kirche in Charleston die Worte „I forgive you“ an den Attentäter richtete).

– Ist ein Verzeihen möglich, wenn der andere, die anderen involvierten Personen nicht anwesend sind?

 

Verzeihen – Verzeihen kommt von Verzichten

Es wurde darauf hingewiesen, dass die Wortherkunft von „Verzeihen“ abgeleitet ist, aus dem Wort „Verzichten“. In Etymologien fand ich Umschreibungen für das Wort Verzeihen, wie etwa „eine Anklage fallen lassen und auf Konse-quenzen verzichten“, oder „einen Anspruch aufgeben jmdm. etwas, das er verschuldet hat, nicht anzurechnen“.

Eine Anklage fallen zu lassen und auf Konsequenzen zu verzichten, kann also sowohl bedeuten, dass der jeweils anderen  Person, oder Personengruppe Konsequenzen erspart bleiben und erlassen werden, es kann aber auch bedeuten, dass ich selbst auf Konsequenzen verzichte, die sich für mich ergeben würden, wenn ich an der ursprünglich gestellten Forderung oder Haltung festhielte.

Besonders im letzteren Sinne – also um selbst Konsequenzen nicht, oder nicht mehr länger in Kauf nehmen zu müssen – so wurde in der Diskussionsrunde geäußert, lohne es sich, zu verzeihen. Verzeihen könne dienen, um Beziehungen, Freundschaften, oder eine Ehe zu erhalten, oder zu verbessern, um den Seelenfrieden wieder herzustellen und um gesund zu werden, oder die Gesundheit zu erhalten.

Was mir besonders gut gefiel an den Inhalten der Diskussion, war die Betonung des Freiheitsaspektes, der in der Vergebung enthalten ist, im Sinne eines „Freiwerdens von“ der Vergangenheit, von Bildern und Emotionen, die einen bis in den Schlaf hinein verfolgen, nicht mehr loslassen, im Griff haben und das Leben bestimmen. Verzeihen kann eine Entscheidung für, oder ein Schlüssel zu einem Neubeginn, Handlungsfähigkeit und Freiheit sein. Es wurde in diesem Zusammenhang Hannah Arendt zitiert:

 

Vergebung ist der Schlüssel zum Handeln und zur Freiheit.

Hannah Arendt

 

Um verzeihen zu können, bedarf es einer inneren Bereitschaft, welche zumindest die Möglichkeit des Verzeihens als erstrebenswertes Ziel anerkennt und sich ihr gegenüber öffnet.Verzeihen lässt sich weder verordnen, noch einfordern und unterliegt dem freien Willen des Einzelindividuums.Es kristallisierten sich im Laufe des Abends mehr oder weniger zwei Lager innerhalb der Diskussionsteilnehmer heraus: das Lager derjenigen, welche betonten, welchen hohen Wert Verzeihen für die eigene Freiheit, Gesundheit und den eigenen Seelenfrieden hat und das Lager derjenigen, die gerade in der Haltung des Leidens, des Hasses, der Bitterkeit in Folge einer erfolgten Handlung eines Gegenübers, eine Ausdrucksform sehen, die es zu respektieren gilt und die in Relation zum Geschehenen betrachtet werden müsse, für das Verständnis und Empathie aufgebracht werden müsse. Das fremde Wollen als Teil der eigenen Realität sein zu lassen und dennoch frei zu sein ist die eigentliche Lebenskunst:

 

Leben in der Liebe zum Handeln und Lebenlassen im Verständnisse des fremden Wollens ist die Grundmaxime der freien Menschen.

Rudolf Steiner

 

 

ES LEBE DIE FREIHEIT!

 

 

 

 

Radikale Vergebung:das Leiden verkürzen, das Leben bereichern

Wie Vergebung gelingt und woran sie in den allermeisten Fällen scheitert

Den meisten Menschen gelingt es relativ leicht jemandem zu verzeihen, wenn es sich um Kleinigkeiten handelt, wie etwa einen nicht eingehaltenen Termin, eine unbedachte Bemerkung, die Übertretung eines Gebotes etc. Und meistens bemerken wir, wie erleich- tert wir sind, wenn der Konflikt gelöst ist , wir einander verziehen haben und wir der betreffenden Person  – mitunter auch uns selbst – wieder vorbehaltlos und entspannt begegnen können.

Ereignisse und Verhaltensweisen, die uns tief verletzen und uns tief in unserem Sein er- schüttern zu vergeben fällt uns hingegen sehr viel schwerer und mitunter bringen wir die Bereitschaft auch nach Jahren nicht auf Vergebung zu üben, selbst dann nicht, wenn der Preis zulasten der eigenen Gesundheit und Lebensfreude sehr hoch ausfällt. Mit der be-treffenden Person, oder Situation ins Reine zu kommen, im Frieden zu sein, ist außer Reichweite und jenseits unseres Vorstellungsvermögens. Die Erleichterung, die Gene- sung, die Freude und der Friede, die sich aufgrund der Vergebungsarbeit einstellen, be- finden sich jedoch ebenfalls außerhalb unseres Vorstellungsvermögens: Sie sind ein wahrer Segen, ganz besonders dann, wenn es sich um eine „größere Sache“ handelt. Sich zu einem solchen Schritt durchzuringen – die beteiligte/n Person /en müssen nichts von dem Schritt erfahren – ist ein großer Befreiungsschlag und in höchstem Maße unter- stützend.

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